Beinahe hätte ich mein brand eins-Abo gekündigt. Der Grund: der extrem schlecht recherchierte und einseitige Artikel von Thomas Ramge mit dem Titel „Die kurzen Arme der Datenkraken“. Dass die Redaktion diesen Text durchgewinkt hat, ärgert mich auch.
Herr Ramge bezieht sich in diesem Artikel auf das Buch „Der digitale Tsunami“ von Nicolas Clasen. Das Buch habe ich nicht gelesen, kann daher auch nichts dazu sagen. Aber der Artikel selbst enthält so viele Fehler und Unwahrheiten, dass ich nur die zehn offensichtlichsten nenne:
- Die Hotwired-Website war nicht der Vorläufer des Wired Magazins. Beide Publikationen erschienen parallel.
- Den TKP von TV-Spots vor der Tagesschau der Restplatzvermarktung im Display-Advertising gegenüberzustellen, ist ungefähr so fair wie ein Rennen zwischen Usain Bolt und einem Kleinkind. Es ist nicht die gleiche Leistungsklasse. Es gibt wesentlich billigere Werbeblöcke im TV sowie wesentlich teurere Premium-Platzierungen auf prominenten Websites. Und diese Online-Platzierungen sind es dann auch wert. Viele Beispiele erfolgreicher Branding-Kampagnen belegen das.
- Klassische Werbung in Fernsehen, Radio und Print-Medien profitiert immer noch von Wirkungsmythen und unreflektierten Routinen, die ein aussterbendes Marketing-Establishment am Leben erhalten. TV-Werbung beispielsweise ist auch deshalb so teuer, weil Reichweite und Effektivität überschätzt werden. Das hat auch etwas mit den Messmethoden der vom Autoren als Referenz angeführten GfK zu tun: Sie erfasst nicht den TV-Konsum einer repräsentativen Stichprobe, sondern jenen der Dauergucker, die den Aufwand des Knöpfchen Drückens beim Einschalten, wenn jemand sich dazusetzt bzw. aufsteht und des Abmeldens vor dem Urlaub ehrenamtlich betreiben, weil sie sich dadurch wertgeschätzt fühlen. Auch die Werbewirkungsmessung im Print-Bereich ist mehr Voodoo als Wahrheit. Tracking im Online-Marketing ist hingegen in der Regel neutral und unbestechlich.
- Dass Herr Ramge das GfK-Modell des Relevant Set von 1981 bemüht, um mit ihm die wachsenden Möglichkeiten digitaler Werbung als „verwirrend“ zu disqualifizieren, entlarvt nur die Absicht des Autoren. Online-Marketing ist weitaus komplexer als klassische Werbung. Innerhalb weniger Jahre hat sich eine Vielzahl von Disziplinen herausgebildet: Display-Advertising, Social Media-Marketing, Suchmaschinenwerbung, E-Mail-Marketing, Mobile-Marketing usw. Dieses Mehr an Möglichkeiten ist natürlich schwieriger zu überblicken und zu evaluieren. Undurchschaubar ist es nur für den, der keine Ahnung davon hat.
- Dass die Nettoerlöse von Online-Werbung “nur” knapp über 1 Mrd. Euro betragen, liegt natürlich am chronologischen Vorsprung klassischer Werbekanäle. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Werbeerlöse aller anderen Medien rückläufig sind oder stagnieren, wohingegen Online-Werbung immer noch zulegt: 9% in 2012.
- „Konversionrate“ ist nicht das gleiche wie „Klickrate“. Ein Interessent kann in Folge eines Klicks zum Kunden konvertieren.
- Dass Herr Ramge Pop-Ups allen Ernstes als Beleg dafür heranzieht, dass Bannerwerbung nicht funktioniert, beweist, dass er mehr mit Klischees statt Fakten operiert. Pop-Ups sind bereits seit Jahren keine relevante Werbeform mehr.
- Herr Ramge wagt die steile These, dass immer mehr Formate nicht mehr klickbar seien, da die Werbetreibenden ohnehin nicht mit Klicks rechneten. Das sei ihm auf bild.de aufgefallen. Ich habe in den letzten Jahren kein professionelles Format gesehen, das nicht klickbar gewesen ist – und ich beschäftige mich jeden Tag mit der Materie.
- Offenbar hat der Autor keine Ahnung von Retargeting. In der Regel werden nicht nur Produkte beworben, die sich der Nutzer angeschaut hat, sondern eben auch Produkte, die ihn ebenfalls interessieren könnten. Dass Retargeting noch nicht in jedem Fall optimal funktioniert, weil beispielsweise Endgeräte von verschiedenen Personen genutzt werden oder Werbetreibende zu extensiv auf dieses Instrument setzen, ist richtig. Aber Herr Ramge unterschlägt, dass Retargeting auch sehr erfolgreich eingesetzt wird.
- Herr Ramge wettert gegen Buzzwords wie Realtime-Bidding und Retargeting, erklärt aber nicht, dass genau diese Techniken darauf abzielen, Nutzern ihren Interessen entsprechend anzusprechen. Dass Google diesen Interessen entsprechende Werbung ausliefert, ist okay. Bei anderen Anbietern ist das Bemühen um das gleiche Ziel nicht okay. Was denn nun?
Herr Ramge versteigt sich zum Schluss zur These, das Onlinemarketing habe seine besten Zeiten bereits hinter sich. Dass er als Redakteur eines Printmediums Angst vor den Umbrüchen in der Medienlandschaft und konkret um seinen Arbeitsplatz hat, verstehe ich nur zu gut. Aber gegen die Digitalisierung und die Notwendigkeit, sich damit zu arrangieren, helfen auch seine unreflektierten Tiraden nicht. Vielleicht hilft ihm dieses Feedback, diese Entwicklungen besser zu verstehen.
Übrigens: Auf den schlecht gestalteten Banner mitten im Artikel würde ich auch nicht klicken.
UPDATE zum Post vom 10.03.2014: Offenbar bin ich nicht alleine mit meiner Kritik an Herrn Ramges Artikel. Das sehe ich nicht nur am positiven Feedback, das ich erhalte, sondern auch an den Kommentaren anderer Online-Marketer – wie z. B. Svenja Teichmann. Hier Ihre Gegenrede auf LEAD digital: http://www.lead-digital.de/aktuell/mobile/print_ist_vergaenglich_digital_fuer_die_ewigkeit.